Im Jahr der globalen Pandemie zog ich los, um einen lang geplanten Pilgerweg zu laufen. Einige Erlebnisse und Gedanken möchte ich hier festhalten – mit dabei sind überraschende oder erfreuliche Erlebnisse oder grundsätzliche Überlegungen zur Natur des Menschen. Irgendwo dazwischen wird sich diese Reihe bewegen. Außerdem ist es ein schöner Anlass, wieder mehr textlich zu bloggen. Der sechste Teil beginnt erneut mitten in der Stadt und endet bei der ersten richtigen Pilgerherberge, die wir nutzten.
Die Nacht im Palazzo gefiel uns mittelmäßig. Es gab drei Betten in unserem Raum, bei denen die Matratzen völlig unterschiedlich waren. Leider waren zwei davon so weich, dass sie für uns kaum nutzbar waren. Nach einigem Hin und Her sprach Ingo mir die halbwegs normale Matratze zu und versuchte sich schließlich an der Optimierung wenigstens eines der beiden Betten. Er entschloss sich schließlich, die Matratze auf den Boden zu legen, sodass eine halbwegs gute Nacht möglich war.
Verspäteter Start in Umbrien
Durch die nicht all zu leichte Nacht begannen wir den Tag nicht wie geplant um 5 Uhr. Zwar klingelte der Wecker, doch die Erschöpfung durch den langen Vortag ließ uns diesen gepflegt ignorieren. Trotzdem standen wir schließlich um 5:45 Uhr und aßen etwas Käse (in Italien überall eine Delikatesse!), ein bisschen Obst oder andere Kleinigkeiten, sodass wir schließlich gegen 7 Uhr das Haus verließen. Wir brauchten allerdings unbedingt noch einen Kaffee, also setzten wir uns in das gleiche Lokal vom Vorabend und genossen etwas die aufgehende Sonne.
Am Vortag hatten wir fast unbemerkt die Grenze von der Toskana nach Umbrien überschritten, denn es zeigten sich überall wunderbare, lebendige Natur, Berge und hier und da ein altes Dorf oder eine alte Stadt. Die ersten zwei Kilometer führten uns noch durch die Stadt, doch wir bogen kurzerhand links ein, um auf Nebenstraßen und Feldwege zu gelangen. Der erste Anstieg ärgerte uns nach ca. 2,5 Kilometern, doch das war mit rund 10% Steigung nur eine kleine Aufwärmrunde. Anschließend liefen wir über Feldwege mit ganz leichtem Anstieg, die uns das Laufen recht einfach machten. Nach drei bis vier Kilometern gelangten wir auch an einen Agriturismo, was in Italien recht weit verbreitet ist – ein Bauernhof, auf dem mensch Urlaub verbringen kann. Später fand ich heraus, dass diese Form der Urlaubsanlagen wohl in ganz Süd- oder Südeuropa etwas verbreiteter ist als in Deutschland.
Schroffe Felsen, seichte Hügel und ein Eis
Nach einer Pause wanderten wir erleichtert weiter durch leichte Hügel, die an einem weiteren abseitigen Anwesen vorbeiführten. Es gab ein Bedienstetenhaus, einen Pool und natürlich auch einen Zypressenweg zum Haupteingang. Doch der Zaun zeigte deutlich: Besucher bleiben bitte draußen!
Kurz darauf gelangten wir wieder zu Straße. Auf der linken Seite hin türmte sich zudem eine schroffe Felswand auf, die die inzwischen hoch stehende Sonne reflektierte und uns die aufkommende Hitze teils schwer erträglich machte. Doch nach einer kleinen Straßenbiegung zeigte sich ein kleines Dorf am Straßenrand, an dem sich zudem ein kleiner Fluss entlangschlängelte. Genau an dieser Stelle war er besonders flach und bot sich eigentlich dazu an, die Füße zu kühlen.
Ich muss allerdings gestehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon etwas zermürbt war, weil wir nicht so schnell wie erhofft vorankamen. Es war schon gegen Mittag und wir hatten noch nicht ganz die Hälfte der Strecke geschafft. Trotzdem brauchten wir eine Motivation, die ich Ingo etwas mürrisch zugestand. In einem kleinen Laden kauften wir ein Eis, was die Stimmung deutlich hob! Auch eine Cola war dabei, sodass wir weiterhin Energie hatten. Niemand braucht Champagner oder Kaviar, Cola und Eis können viel mehr Wunder bewirken!
Heißer Anstieg
Nun wurde die Straße bald wieder zu einem Feldweg, dem wir nach rechts folgten. Wir sahen eine Steigung vor uns und dahinter einen höher aufragenden Berg. Wir wussten, dass nun das anstrengendste Stück des Tages käme. Es verlief zudem über hellen Schotterweg, der die Hitze immer gut reflektiert. Trotzdem gingen wir es (fluchend) an, verliefen uns bei den mehreren, aufeinanderfolgenden Abzweigungen nur einmal und gelangten auf Sandboden und Lehm, liefen bald unter Bäumen und sogar an weiteren kleinen Wasserläufen vorbei. Ingo hielt seinen Kopf in das Nass, wir wuschen unsere Schuhe, indem wir durch fast knöcheltiefe Pfützen wateten und waren wieder halbwegs guter Dinge, auch wenn es nicht mehr ganz so früh war.
Das schwerste Stück lag uns jedoch bevor: Wir erreichten wieder Schotter und es ging stetig bergan. Zunächst 6, dann 7, dann 10% ohne Pause, schließlich ein Stück mit 18%, bei denen wir schließlich dachten, die Kuppe erreicht zu haben. Doch das war nicht der Fall und wir hatten noch rund zwei Kilometer leichten Aufstieg vor uns. Die Erleichterung nach fast fünf Kilometern Aufstieg (300 Meter) könnt ihr nur erahnen!
Ohne GPS, mit Hunger
Ziel des Tages war die Landkirche Pieve dei Saddi (zu deutsch: Landkirche der Heiligen), bei der wir wussten, dass sie etwas abseits lag. Wir wussten aber auch, dass es bis dahin kaum einen Anstieg mehr gab, also gönnten wir uns endlich die nächste Pause. Es war schon deutlich nach Mittag, also war unser Ziel, bis mittags den Fußmarsch immer beendet zu haben, wieder nicht erreicht. Doch die Reise lehrte uns insgesamt, dass unsere (vor allem meine) Pläne nicht aufgehen, wenn sie zu ambitioniert sind. Die Natur, vor allem wenn mensch sie nicht kennt, hat immer eine Überraschung parat und ist im Zweifel immer etwas widriger als gedacht.
Trotzdem ging es uns gut und das war das Wichtigste. Allerdings regte sich der Hunger, der von Kleinigkeiten wie Müsliriegeln oder Trockenfleisch (Ingo) nicht gestillt werden konnte. Wir mussten nun also noch einmal die letzten Kraftreserven mobilisieren, um die letzten vier Kilometer zu bewältigen. Unser GPS hatte sich zwar zwischenzeitlich verabschiedet, doch die Straße führte uns direkt durch ein paar Hügel hin zur Pieve dei Saddi.
Es ging nur bergab, was ebenfalls sehr anstrengend sein kann. Schließlich sahen wir auf der linken Seite einen kleinen Weg abzweigen, der am Ende ein kleines Haus offenbarte. Je näher wir kamen, desto größer gestaltete sich das vermutete Häuschen, sodass wir wussten: Wir waren richtig und angekommen. Die neben dem Haus errichteten flachen Mauern und Bänke, manche hölzern, manche steinern, waren besetzt von einer Handvoll Pilgern, von denen ich gar ein Pärchen wiedererkannte. Sie hatten am ersten Tag des Wanderns am Santuario Francescano im Frühstücksraum hinter Ingo gesessen. So sahen wir uns also wieder!
Doch wir hatten keine Schlafplätze gebucht – wie würden sie uns aufnehmen?

Pilger unter sich
Die Antwort kam so prompt wie freundlich. Eine mittelalte, blonde Frau nahm uns auf, fragte nach unseren Daten (für die Kontaktnachverfolgung – immerhin befanden wir uns noch mitten in einer Pandemie! -, fragte nach unseren Essenswünschen für den Abend und schließlich erhielten wir zwei Schlafplätze in einem Gemeinschaftsschlafraum zugeteilt. Natürlich, wie konnte es anders sein, befand sich dieser Raum unter dem Dach, aber das war uns zu dem Zeitpunkt auch egal. Wir hatten bis dahin nur eine Mitschläferin, später noch eine andere, aber das störte uns alles nicht. Wir hatten die lange Etappe geschafft und waren mitten unter anderen Pilgern!
Nach einer Dusche schauten wir uns erst einmal um. Die Herberge bestand aus mehreren Gebäuden, die alle alt und teils verfallen waren. Daher waren die meisten der Gebäude auch gesperrt, teils mit Gerüsten vor dem Einsturz geschützt. Von jedem Punkt aus um die Pieve herum hatten wir jedoch einen besonderen Blick in die Landschaft. Ein sehr pilgergeeigneter Ort!
Fast satt
Gegen 19:30 Uhr sollte es Abendessen geben, worauf wir uns schon extrem freuten. Mit den anderen Pilgern hatten wir uns noch nicht so recht beschäftigt, doch das sollte sich am Essenstisch ändern. Wir waren die einzigen Ausländer, alle sprachen italienisch. Doch das störte nicht, die meisten konnten auch englisch, einige besser, andere schlechter.
Noch während des Abendessens kamen weitere Pilger an, vier Jungs, die an dem Tag 35 Kilometer gelaufen waren. Wir merkten, dass wir hier unter Verrückten waren und fühlten uns wohl!
Da die Mahlzeit eigentlich für eine bestimmte Anzahl an Leuten geplant war, sahen alle etwas von ihrem Anteil ab, sodass auch die Nachzügler noch etwas abbekommen sollten. Mein Magen war nicht ganz zufrieden, doch ich war beeindruckt, dass hier die christliche Idee tatsächlich gelebt wurde – so etwas hatte ich unter Christen oder allgemein in unseren westlichen Gesellschaften selten erlebt. Zum Abend gab es noch einen kleinen Kaffee, dann stellten sich alle „frühen“ Pilger nach draußen in die untergehende Sonne, um den Nachzüglern Platz am Tisch zu schaffen. Dabei kamen wir mit den Italienern noch viel mehr ins Gespräch, tauschten ein paar Gedanken und Erfahrungen vom Weg aus. Für einige von ihnen war es, wie für uns, die erste Pilgerreise, einige kannten schon den Weg oder waren andere Pilgerwege gelaufen. Doch letztlich wollten alle am kommenden Tag früh weiterziehen, so konnten wir nicht allzu lange dort stehen.
Während wir jedoch draußen standen, kam sogar noch ein letzter Pilger an – ein graubärtiger, drahtiger Mann, der zwar abgekämpft, aber freundlich war. Am nächsten Morgen sollten wir mehr über ihn erfahren.
Kürzungspläne
Die vergangenen, anstrengenden Tage veranlassten Ingo und mich, schon auf der Tageswanderung und vielmehr noch am Abend darüber zu sprechen, wie wir weiter verfahren. Sicherlich wollten wir die Wegstrecke laufen, doch ich hatte schon im Vorhinein davon gelesen, dass es durchaus Pilger gibt, die am 7. Tag eine Pause einlegen. Manche mit dem christlichen Gedanken, manche einfach, um dem Körper eine Pause zu gönnen. Ganz so einfach wollten wir es uns nicht machen, trotzdem waren es bis zur nächsten größeren Stadt – Gubbio – noch 25-26 Kilometer, die wir uns nach den Strapazen nur schwer vorstellen konnten. Doch mehrere Tage in der Pieve wollten wir auch nicht verbringen.
Also schmiedeten wir den Plan, dass wir bis zum nächsten kleineren Ort laufen, Pietralunga, um von dort aus irgendwie weiterzukommen. Das waren zehn schaffbare Kilometer. Um diesen Teil der Strecke geht es dann im nächsten Eintrag…
Da uns das GPS zwischendurch verließ, die Daten aber größtenteils hinterher hinzugefügt wurden, gibt es auch diesmal wieder zwei Etappen – Tour 1, Tour 2.